Texte
Gabriele Uerscheln
Katalogtext aus Katalog Anne Kolvenbach „Arbeiten 1993 - 1998“
Hrsg. Galerie Annelie Brusten, Wuppertal 1998, Auf und Ab
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Auf und Ab

Das Auf und Ab: Ein unentbehrliches Manöver.
Da ist zunächst Schutz in der Höhe, ein sicherer Platz über den Gefahren der Niederungen. Trittstufen, Setzstufen und das, was seitlich Halt gibt, erleichtern den Weg hinunter und hinauf. Da ist schließlich ein Thron, dem Boden fern, und für den oben Thronenden wird die letzte Trittstufe unten als „roter Teppich" weitergeführt. Ein doppelter Boden mithin, der den da oben vor dem direkten Kontakt mit dem da unten schützt.

Für Anne Kolvenbachs künstlerischen Weg ist charakteristisch, daß immer wieder neue Verzweigungen eingeschlagen werden, ohne doch das bis dahin Verfolgte in Frage zu stellen.
Da gibt es keine radikalen Brüche, vielmehr Umkreisungen, Verschlingungen, Aufnehmen von bereits Durchspieltem und den innewohnenden Potenzen, die neu befragt werden. Die Wanderung durch die Bildräume von Anne Kolvenbach ist ein Gang auf schwankendem Boden; hier und da gibt es Haltepunkte, Inseln, von denen aus nach kurzem Innehalten der Weg weiter beschritten werden kann.
Zutiefst im Wechselverhältnis stehen Raum und Zeit, besser: Zeiten und Räume. „Wenn ein Punkt eine Linie wird, erfordert das Zeit" (Paul Klee).
Die Zeiterfahrungen sind zugleich bewältigte Räume, bewegte Räume, Zwischenwelten und Passagen, die sich sowohl gegenseitig bestimmen als auch abstoßen.
Wenn über wogende, schwingende Farbströme ein Festigkeit suggerierendes Raumgitter fließt, wird es sogleich Illusion, bricht es auf, um Ausblick, Einblick in neue Räume zu geben. Hartnäckig sind Flächen- und Raumausschnitte befragt. „Rutscht" der Blick auf Verschmierungen, auf sich durchdringenden Farbschlieren aus, kann er an versiegelten Oberflächen Halt finden. In den Welten, den Elementen von Teilsystemen wandert das Licht mit, einmal als Gegenlicht, das Figuren und Figurinen als Schattenrisse erscheinen läßt, dann wieder als durchfließendes Licht, das Formstrukturen nur als linear umkreiste Dinge und Wesen „stehen läßt" auf verlorenem Posten.

Der Tiefenblick weicht dem Höhenblick und zurück.
Zeichen als Setzungen agieren wie zufällig; einmal sind sie optisch auflösbar als Stuhl, als Fächer, als tanzende Paare, als einsame Gestalt in einem Schattenreich, dann wieder sind die Setzungen amorphe Gebilde, vor oder nach ihrer Gestaltwerdung.
Thema ist bei diesen Zeichen wie bei dem Wechselverhältnis von Zeit und Raum die Befragung von Vervielfältigung, Standardisierung, die Gefangenheit in bestimmten Formen und Typen. In Bildräumen voller kontinentaler Driftungen wird nach Balance gesucht. Das betrachtende Auge gerät ins Pendeln, ins Schweben, vexiert zwischen Farb-, Raum- und Zeitwelten. Auch der Körper der Montageplastik bestimmt einen Raum mit aufgelösten „Netzen" und Böden, in denen die Blickpassagen zum ästhetischen Wagnis werden.
Der Betrachter entdeckt an der Arbeit von Anne Kolvenbach zunächst Bekanntes: drei Liegestühle, zu einer 246 cm hohen Schräge formiert, die auf dem Boden aufsitzend mit ihrer oberen Kante an einer Wand Halt findet. Die einfachen Holzleisten sind in einem warmen Türkis gefaßt, die knapp 60 cm breite Stoffbespannung besteht aus festem, dunkelblauen Baumwolltuch.

Doch das Bekannte wird augenblicklich fremd. Stiege, Rampe und Treppe: die in jenen Tagen gefundene Bauanleitung wurde bis heute tradiert, die Gestaltung vielfach variiert. Auch die Konstruktion des Liegestuhls wurde, einmal bewährt, nicht geändert. Seine ideale Form überzeugte. Wegen seiner zweckmäßigen Bauweise und seiner klaren Linien wurde er von Le Corbusier als mustergültig gepriesen: der deck chair.
Die wenig elegante deutsche Bezeichnung „Liegestuhl" verrät nichts darüber, daß er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für sonnenhungrige Schiffspassagiere als komfortables Möbel für Mußestunden auf Deck konstruiert worden ist. Das Reise- und Freizeitmöbel, das mit seinem Klapp und Verstellmechanismus auf gotische Möbeltypen zurückgeht, hat allseits sichtbare simple Leisten aus Holz und eine durchlaufende Stoffbespannung, die zugleich als Rückenstütze und Sitzfläche dient. Schon früh in Serienfertigung gegangen, erfreut sich der Liegestuhl bis in die Gegenwart der Wertschätzung sowohl für die Muße auf Deck als auch, als Adaption der Reisegewohnheiten und Riten wohlhabender Geschäftsleute und Flaneurs von einst, für die freien Stunden im horto concluso der Bürgerlichkeit. Zur sozialen Abgrenzung kann heute nur noch das Material variiert werden, nicht aber die Grundkonstruktion.

Anne Kolvenbach hat mit diesem Möbel ein heiter-ironisches Spiel voller Brechungen getrieben. Mehr noch: das Gebrauchsmöbel exekutiert.
Drei Liegestühle sind herausgerissen aus der alltäglichen Nutzung, in alle Einzelheiten zerlegt, neu, und im Blick darauf, wie gängig-preiswerte Liegestühle normalerweise gestaltet sind, die Leisten mit ungewöhnlicher Farbgebung sorgfältig neu gefaßt und verkostbart.
Fern der Konstruktion für den ursprünglichen Gebrauch und wie im Zorn darüber, den nützlichen Zustand nicht mehr wiederherstellen zu können oder zu wollen, hat die Künstlerin schließlich ein ineinander verkantetes Gestänge von Leisten zu einer Plastik montiert. Querhölzer sind zu Schlaufen für eine Stoffbahn funktionalisiert, die als Fläche das Gebilde optisch zur Vorstellung von einer Treppe zusammenführt.
Doch gibt es hier keine Tritt- und Setzstufen, zu einer Rampe kann die Stoffbahn auch nicht dienen, Querleisten unterbrechen kantig jede Möglichkeit des geschmeidigen Abrutschens, ebensowenig wie sie eine Ruhezone markiert. Die seitlichen Leisten verkreuzen sich, fügen sich zu spitzen oder weiten Winkeln so, daß hier das Gegenteil von sicherem Halt suggeriert wird. Allein der obere Abschluß der Plastik läßt noch den Eindruck von etwas Stabilem erkennen, das Gerüst, die Form des Liegestuhls ist wiedererkennbar. Doch der vergleichende Blick mit dem Realen wird sogleich irritiert, denn es gibt keine Fläche, die zum Ruhen einlädt. Die vermeintliche Sitzfläche fließt bereits als Stoff nach unten, wo sie, endlich auf dem Boden angekommen, ihren Bewegungsfluß von oben nach unten als sich beruhigendes Auslaufen auf der horizontalen Ebene fortsetzt. Die Einladung zur Orientierung nach oben und zugleich zur Flucht vor dieser nach unten immer fragiler werdenden Kaskade aus verunmöglichten Sonnenstunden gerät zum symbolhungrigen Blick.

Hetoimosia
Das profane Material ist erhoben zum „leeren Thron", der doch allenfalls einen Absturz einleitet. Umgekehrt: die „Leiter" in luftige Höhen, entfernt von Menschenmaß, läßt nur ein ungelenkes Klettern zu.

Oben
Endlich am Ziel. Das Geheimnis ist, daß es keines gibt. Kein Schutz, kein sicherer Platz, kein Ort des Erhabenen, von dem aus der weltumspannende „Götterblick" möglich ist.

Unten
Spannend am Sturz ist der Aufprall. Doch findet kein Drama statt. Der Bewegungszug zerfließt in einen undefinierten Raum. Alles ist möglich, je nachdem, wo die Montageplastik installiert wird.

Mit dem Instabilen des Stabilen wird ein heiter-ironisches, ein ästhetisches Spiel im ursprünglichen Sinne getrieben. Für die Künstlerin ein unentbehrliches Manöver.

© Gabriele Uerscheln
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