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Gabriele Uerscheln
Zu den Passagen von Anne Kolvenbach
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Musik - Entlastung vom Begriff - begleitet die Künstlerin bei der Arbeit an ihren Passagen durch Räume und Zeiten.

Malerei - Entlastung von gesetzten Vereinbarungen für das Messen und Bestimmen der Wirklichkeit - ist für Anne Kolvenbach das Medium, um einen narrativen Bilderfluss mit eigener, schöpferischer Syntax entstehen zu lassen.

Dem ersten Blick, der auf ihre Passagen fällt, eröffnen sich Aneinanderfügungen von Panoramen, in denen Facetten von Welt festgehalten sind. Die unterlegte Ordnungsmatrix der vordergründig exakt voneinander abgegrenzten Rechtecke kartographiert den Bilderfluss zu Räumen, in denen leicht schimmernde Lasuren zu hellen Farbakkorden aufklingen, opake Verdichtungen von Pigmenten kein Durchdringen möglich sein lassen. Der Versuch, Richtungszüge einzuschlagen, scheitert, denn schnell wird deutlich, dass die Passagen der Künstlerin ein zielorientiertes Durchstreifen der Bildräume nicht zulassen. Ein scheinbar neu auftauchendes Ornament für ein Bezeichnetes erinnert an eines, das zum kurzen Innehalten in einem anderen Bildraum verführt hat. Vom ‘Rechts und Links’, vom ‘Oben und Unten’ im Bilde zu handeln, wird angesichts der Passagen nicht gelingen:
Zurück und vor zum Wieder- und Neuentdeckten offenbaren sich Brückenschläge, Wiederholungen, Verdrängungen.

Der betrachtende Blick gerät in die Eigengesetzlichkeit eines ästhetischen Spiels, das in seiner heiteren Ernsthaftigkeit vom Genießen lichtgesättigter Farbigkeit, dem fragilen Miteinander von Lebensräumen und der Gefahr des Zerreißens von Ordnungsgefügen erzählt.
Linien, zu Ornamenten abstrahierte verschlüsselte Kalligraphien, die in energischen Zügen auf hellen Fond gesetzt sind, kontrastieren mit Flächenlandschaften, in denen sich auf malerischem Grund eingeschriebene Spuren und Zeichen in Farbflecken verlieren. Mit Verschiebungen und Schichtungen, Übergriffen von Zeichen, Flächen und Räumen, deren Körper sich dank farbperspektivischer Mittel ausdehnen, votiert die Künstlerin gegen die Vermessung von Welt in gültig erklärender Absicht.

In seinem ’Höhlengleichnis’ plädiert Platon dafür, sich zum Erkenntnisgewinn nicht auf die Unschärfen schatten- und schemengleicher Bilder zu stützen. Die Höhle, an deren Wänden solche Trugbilder auftauchen, gelte es vielmehr zu verlassen, um im Licht der gestaltfest leuchtenden Sonne dem Erkennen von Wahrheit auf die Spur zu kommen. Ein Blick auf heutige ’Höhlen’ zeigt, dass die antiken Schemen digitalen Schärfen gewichen sind. Dies könnte zu der Schlussfolgerung verleiten, daß es des Aufwandes nicht mehr bedarf, die ’Höhle’ zu verlassen, um die Erkundung im Außen zu wagen.

Anne Kolvenbachs Passagen provozieren den Blick, der sich auf schwankendem Boden in einem festen Gefüge einstellt. Linien, ohne Körper, graphisch streng, ufern aus zu malerischen Farbstreifen, Raum, dreidimensional, verdichtet sich zurück in eine zweidimensionale Farbfläche. In Ebenen eines unbestimmten ’Zwischen’ immer wieder auftauchend die seismographisch getakteten Aufzeichnungen lebendigen Erkundens und erinnerte Abbildfragmente von Wirklichkeit.

Charakteristisch die Handschrift der Künstlerin: Stets wiedererkennbar, dabei stets neu, schöpferisch variiert. Die Anwendung der bildnerischen Mittel bei ihrer Arbeit an den Passagen zeugen von gelassener Souveränität, die in einem künstlerischen Observatorium wurzelt, das Tafeln von Symptomen der Wirklichkeit in einem wechselseitig wirksamen Miteinander von Schärfe und Unschärfe komponiert.

© Gabriele Uerscheln
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