Texte
Hans Jürgen Kolvenbach
Im Vorübergehen - Text zur Ausstellungseröffnung am 16.09.2012
vor Bildern der Ausstellung gesprochen
ANNE KOLVENBACH • ENSEMBLE • MALEREI
Kunstforum Gummersbach, 16.09. bis 25.10.2012
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[Stehend vor dem Ensemble „zurück und vor“]


zurück und vor, 2009, Acryl a. Lwd., 200 x 550 cm, sechsteilig

„Das Auge ist der Hammer.
Die Farbe ist die Taste.
Die Seele [der Betrachter] ist das Klavier mit den vielen Saiten.“


Wirklich? Das Auge als Hammer?, so die Behauptung des 44-Jährigen Wassily Kandinsky 1910 in seinem Manuskript „Über das Geistige in der Kunst“, ein Jahr bevor er mit einem Aquarell ohne Titel aus 1910 oder 1911 [vielleicht sogar erst 1913 gemalt, aber bewusst vordatiert] als Erstmaler des Abstrakten die Weltgeschichte der Kunst vorantreibt.

Und im Blick auf die Leistung der Künstler fährt er fort „Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweckmäßig die menschliche Seele in Vibration bringt.“ (Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, Benteli-Verlag, Bern-Bümpliz, 1952, s. 64)

Blicke ich auf Anne Kolvenbachs sechsteilige Arbeit mit dem Titel „zurück und vor“, dann habe ich nicht das Gefühl, dass die Hand der Künstlerin mein Auge zum Hammer werden lässt, eher denke ich, dass dieses Werk mein Auge in ein dahingleitendes Fahrzeug oder Segelgefährt verwandelt und die Farben des Bildes keineswegs zu Tasten, sondern zu den Flächen werden lässt, die die Bewegungen des dahinfahrenden oder dahinschwebenden oder auch dahinschwimmenden Auges bestimmen: vom entspannten Geradeaus in unvorhersehbare Kehren geschleudert oder in kreisende Dauerrotationen versetzt, in übermütige Schlendereien, in unvorhersehbare Tanzdrehungen, aber auch plötzlich endend: gegen die Wand.

Entscheiden Sie selbst für sich, ob Sie Ihr Auge in diesem Augenblick eher als Hammer empfinden oder ob Anne Kolvenbach es zu einem gleitenden Fahrzeug werden lässt auf Kufen oder auf Rädern oder über Gewässern oder etwas erhöht luftgetragen.

[Redepause]

Und entscheiden Sie bitte jetzt, an welche Gestaltungen aus diesem sechsteiligen Ensemble Sie sich am ehesten erinnern, wenn wir diese Arbeit gleich vorläufig verlassen werden.

Ich schweige einen Moment, damit jeder von uns für sich herausfinden kann, ob sich bei all dem Gleiten des Augenfahrzeugs eine Erinnerung einzuprägen vermag.

[Redepause, die Zeit gewährt]

Für mich selbst will ich nicht von Erinnerung sprechen, aber von einer mich immer wieder erfassenden extremen Irritation. Irritiert bin ich immer neu von einem schwer zu deutenden Gebilde im Bild, einem Gebilde, das ganz im Gegensatz zu all den Bewegtheiten, die Anne Kolvenbach in Farbe und Duktus und Linien- und Flächenkomposition erzeugt, zu einer unerwartbaren Ruhe und Versenkung einlädt. Jede einzelne dieser sechs Tafeln und erst recht ihr unentwirrbares Zusammenspiel lockt den Zuschauer in Kontrasterlebnisse und damit in Bewegung. Ob es der Qualitätskontrast ist, den die Rechtecke mit den unregelmäßigen Formen ausfechten oder der heftige Richtungskontrast der waagerechten Formen, die für das Liegen stehen, der senkrechten Formen, die das Stehen suggerieren. Ob es der Quantitäts-Kontrast ist von groß und klein, der Farb-an-sich-Kontrast mit dem aktiven Rot gegen das passivste Grün. Nicht zu sprechen von den Schwingungen und Gegenschwingungen der dahinlaufenden oder sich verdickenden oder zerzitternden Linien.

Es gibt ein Gebilde, das all diese Bewegtheiten in ein Versenktsein überführt. Ich meine die Stelle, an der diese großformatige abstrakte Komposition für einen Moment ins Gegenständliche sich zu verfestigen scheint. Die Stelle, an der der Arm eines Kranes sich in schützender Rundung über eine leicht linear bewegte Wasserfläche hält und ein geheimnisvolles rotes Paket zu versenken scheint. Die den Kran spiegelnde empfangend gestaltete grüne Kaimauer scheint das Geschehen abzuschirmen, Ruhe aufzustauen. Gerne verrate ich, wie ich diese Irritation für mich aufgeklärt habe. Zur Begründung muss ich uns eine kurze Exkursion in einige grundlegende Gedanken zur abstrakten Kunst zumuten.

Anne Kolvenbachs Werk ist weitgehend frei von den malerischen Illusionen der Gegenständlichkeit. Sehr berechtigt hat schon Platon (ca. 428 - ca. 347 v. Chr.) die Malerei seiner Zeit als nicht hilfreich für die Erziehung des Menschen eingestuft, obwohl die visuelle Sinneswahrnehmung für ihn wertvoll war und den ersten Schritt zur Erkenntnis ermöglichte. Sein heftiger Vorwurf gegen die Malerei: die Malerei seiner Zeit widme sich der mimesis (Nachahmung) und entferne den Zuschauer damit in doppelter Weise von der tieferen Wahrheit des Seins, weil sie nämlich in der Fläche vortäuscht, etwas abzubilden, was bereits als körperlicher Gegenstand nur einen Schein der wahren Seins-Idee zu bieten vermag. Die Skenographia, die Bühnenmalerei, und die Skiagraphia, die Schattenmalerei, die beide eine möglichst realistische, illusionistische Wiedergabe der Wirklichkeit anstrebten und das Eindringen der Raumperspektive in die Malerei verwirklichten, wurden schon vor Platon entwickelt, nicht erst zu Platons Zeit. Platon hat also nicht, wie einige ihm vorgeworfen haben, als rückwärtsgewandter Konservativer in dieser illusionistischen Malerei eine neue Kunstrichtung bekämpft, sondern konsequent seinem Grundgedanken folgend, musste er die Täuschung ablehnen, mit der gegenständliche Kunst die Täuschungen unserer sinnlichen Körperwelt absichert, verfestigt, sogar verdoppelt. So wie Platon die vom Gegenstand abstrahierende Musik in ihrem Bildungsgehalt zu würdigen wusste, so hätte er, da bin ich mir sicher, die abstrakte Kunst zu schätzen gewusst, weil sie, sofern die heute hier Anwesenden zu den 10 oder 20 Prozent aller Menschen gehören, die dafür Auge, Ohr und Tastsinn zu öffnen vermögen, uns aus den Täuschungen befreit, in denen der Wille zur Macht unser in der Evolution ausgebildetes Körper- und Geist-Instrument gefangen hält. Wenn nur für Sekunden unser Körper-Geist sich in der Auseinandersetzung mit abstrakter Kunst in ein interesseloses Wohlgefallen aufzuschwingen und dort zu halten vermag, dann ist das schon ein still zu genießender Triumph des menschlichen Sonderweges in der Evolution.

Kandinskys (1866-1944) Werk hätte ich gerne von Platon gewürdigt gehört und erst recht das noch wenig bekannte Werk der schwedischen Malerin Hilma af Klint (1862-1944), die im selben Jahr wie Kandinsky verstorben ist, aber als 4 Jahre älterer Mensch auch vier bis fünf Jahre früher als Kandinsky, nämlich im November 1906 das verschreckend wunderbare Bild „Chaos, Nr. 2“ als das erste abstrakte Gemälde gemalt hat. Als 5 Jahre an der Königlichen freien Akademie der Künste in Stockholm ausgebildete Künstlerin und als engagierte Spiritistin, Theosophin und Anthroposophin hat sie mit ihrem Werk ihren Kontakt zum Geistigen sichtbar gestaltet, aber der Nachwelt bewusst bis weit über ihren Tod hinaus vorenthalten.


[2013 werden große Teile ihres Werkes erst in Stockholm vom 16. Februar bis 26. Mai 2013 im Moderna Museet und vom 15. Juni bis 6. Oktober im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen sein.]

Als Schriftsteller möchte ich keine Stellung beziehen zu der Streitfrage, ob nun Hilma af Klint oder Kandinsky als erste Künstler des Abstrakten auf den Thron zu heben sind, es waren ja auch nicht nur diese beiden, die um 1900 den mutigen Fortschritt in der malerischen Kunst gegangen sind. Allerdings möchte ich kurz an eine gerne verdrängte Kulturtradition erinnern. Häufig schon hat die Malerin Anne Kolvenbach über die Auswirkungen ihrer Studienzeit an der Kunstakademie Düsseldorf nachgedacht. Und so gut und so hart auch die künstlerische Kritik und die Förderung und der Wettbewerb dort waren. Auf zwei Gesichtsfeldern waren die damaligen Kunstprofessoren erblindet. Sie erwähnten aus keiner Geschichtsepoche einen weiblichen Künstler. Es gab nicht die Malerin Artemisia Gentileschi (1593-1653) oder Angelika Kauffmann (1741-1807), nicht die Bildhauerin Camille Claudel (1864-1943). Nicht eine Künstlerin. Kein Wort auch zur Wechselwirkung zwischen antiker europäischer Baukunst und islamisch maurischer Architekturkunst in Spanien. Auch kein Wort zur Wirkung der Alhambra bis in die europäische Malerei. Ich erlaube mir deshalb daran zu erinnern, dass Abstraktion in der Malerei Europas lange schon vor Kandinsky und Hilma af Klingt geübt wurde - Sie haben eine Vermutung? - ja, in muslimischen Bildwerken aus dem südlichen Europa.

Dazu nur ein einziger Beleg: vom 13. Jahrhundert bis zum Ende des alten Reiches wurde für die meisten Krönungen der römisch-deutschen Kaiser ein Krönungsmantel oder Pluviale (ursprgl. Bedeutung: Regenmantel) verwendet. Der halbrunde bis zum Boden reichende Umhang kann heutzutage in der Wiener Hofburg besichtigt werden.

Die äußere Gestalt dieses für die deutsche Politik so wichtigen Krönungsmantels spiegelt die verschiedenen kulturellen Einflüsse wider, die das Sizilien des 12. Jahrhunderts prägten: die der lateinischen und der griechisch-byzantinischen Christenheit und des Islam. Sowohl im Stilempfinden der arabisch-muslimischen Bevölkerungsgruppe als auch in dem der normannischen Eroberer spielte die Freude an stilisierender Ornamentik eine wichtige Rolle. In diesem Krönungsmantel findet sich vereint Figuration und Abstraktion, also christliches und islamisches Kunsthandwerk und Kunstwollen in einem Stück, das der Zurschaustellung weltlicher Macht diente. Womit bewiesen wäre, dass der Streit um die Urheberschaft der abstrakten Kunst auf jeden Fall die Intentionen und die Kunsterzeugnisse des Islam auf europäischem Boden mit einbeziehen müsste. Denn vom späten 8. Jahrhundert an gibt es in der islamischen Hadith-Literatur den ersten schriftlich überlieferten Beleg mit dem Verbot bildlicher Darstellungen, ein Auslöser für abstrakte Malerei und Bildkunst in islamischen Kultstätten.

Nun zurück zu der hier vor uns ausgebreiteten Arbeit. Ich weiß nicht, wie Sie die Stelle deuten, in der das Ensemble sich leicht nach rechts verschoben von seiner Mitte und nach unten hin ausgestellt aus all seiner Bewegtheit in eine Ruhe versammelt, die aber erst eintreten kann, wenn die noch im Prozess befindliche Versenkung vollendet ist. Ich vermute, dass in dem rot verpackten Paket, welches der Kran den beruhigten Fluten übergibt, das Geheimnis der Malerin verpackt sein könnte. Denn Anne Kolvenbach überlässt sich beim Malen immer wieder dem Malgeschehen, das aus ihren inneren Bewegtheiten Hand und Pinsel führt. Sie entwirft keine Skizze bewusst vorweg, lässt kein lineares Denken als Zuchtmeister ihre Malerei beherrschen und führen. Meine sehr subjektive Deutung lautet: in dieser Andeutung von Gegenständlichkeit erscheint ein Hinweis auf das Geheimnis des Malens, aber so, dass geheim bleibt, was nicht zu sagen ist, damit der Text verpackt und verschlossen und versenkt bleibt, weil das Geheimnis nur in der nichtlinearen Sprache der Malerei offenbart werden kann. Vielleicht ist meine Deutung gar nicht so subjektiv, wenn man die Bedeutung des Titels beachtet. Mit „zurück und vor“ wollte die Malerin benennen, was sie immer wieder erlebt, wenn sie nach einer für sie abgeschlossenen Malphase eine neue Arbeitsphase beginnt. Sie merkt dann, dass es erst im neuen Gestalten vorangeht, wenn sie ihre Blicke zurückgeworfen hat auf hinter ihr liegende Arbeiten. In den meisten neuen Werken steckt dieses „zurück“ und dann „vor“.

Wenn Sie Ihren Blick von diesem Geschehen aufwärts springen lassen, der rot punktierten Linie folgend mit der inneren Bildbewegung ihr Auge nach links gleiten lassen, geraten Sie in eine bänderartig vermittelte Fließbewegung, die hinter einer stehenden Acht weiterführt, nicht darin innehalten will, sondern in dieser Arbeit aus der Acht auch wieder hinausführt und waagerecht in den linken Bildteil des Ensembles überleitet, wie ja überhaupt dieses Ensemble eine Blickrichtung gegen unsere Lesegewohnheit nach links auslöst, also zurück, ehe es uns wieder in den gewohnten Vorwärtsgang nach rechts zieht.

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit bei der Figur der ACHT zum Verweilen bringen. Immer wieder erscheint die ACHT in anderen Arbeiten Anne Kolvenbachs. Unstreitbar versammelt diese Figur, wenn sie liegend gezeigt wird und freigestellt, alle Bewegtheiten in sich selbst und bringt sie zur Ruhe.

Sie werden gleich, ich hoffe, so staunend wie ich, sehen, dass zu guter Letzt alle Bewegtheiten in der unendlichen Vollkommenheit der ACHT münden können. Im Bild „bannen“ ist es Anne Kolvenbach nach meiner Meinung unter gänzlichem Verzicht auf gegenständliche Andeutungen gelungen, das Geheimnis der Malerei als bewegte Gestalt und ruhendes In-sich-selbst-Sein darzubieten. Es wäre schön, wenn Sie das Zusammenspiel dieser in einem Malschwung durcheilten Acht mit dem Krangeschehen im Mittelteil des Ensembles in Erinnerung behalten könnten, wenn ich jetzt mit Ihnen zu dem Bild „bannen“ gehe und sie erleben werden, wie dort das Ruhen in der ACHT zu einem visuellen Ereignis wird.

Alle gehen zu „bannen“


bannen, 2004, Acryl a. Lwd., 80 x 70 cm

Vor „bannen“ schweigend

Vor dieser Arbeit scheint mir ein schweigendes Verweilen besonders angebracht. Allerdings möchte ich Ihnen ein Zitat vortragen, welches als Fragment darauf hin zu deuten vermag, warum das visuelle Zeichen der liegenden Acht und die Acht in unterschiedlichsten Kulturen Bedeutungen zu vermitteln vermochte, die alle auf Vollendung zielen.

„Im Bereich des Spirituellen ist die Acht das Ziel des Eingeweihten, der durch die sieben Stufen oder Himmel gegangen ist, und somit ist sie die Zahl des wiedergewonnenen Paradieses.
Der achte Tag schuf den neuen Menschen voller Anmut. Nach den sieben Tagen des Fastens und der Enthaltsamkeit wird der achte Tag der der Fülle und Erneuerung.
Das Achteck ist der Beginn der Transformation des Quadrates in den Kreis und umgekehrt.
Die Acht ist die doppelte Vier und die zweifach potenzierte Zwei und beinhaltet damit auch die Qualitäten dieser Zahlen in erweiterter Form. Sie ist eine Zahl, die zwar selbst keine besondere Dynamik innehat, die aber als ruhendes Zentrum inmitten der Bewegung liegt,
was sich etwa in dem buddhistischen Rad der Erlösung mit seinen acht Speichen zeigt.
Das Zeichen ∞ stellt eine endlose Umschlingung dar und bedeutet die Unendlichkeit, die Lemniskate“,

[Zitat aus:
http://www.rodurago.net/index.php?site=details&link=8&rck=78cd5cabe819bc3a4c9280743d5d2742 ]


also eine schleifenförmige geometrische Kurve, welche die Bewegtheit nicht in andere Richtungen entlässt, sondern in sich ruhen lässt. Die beiden Kreise dieser Acht, an die vollendete Naturform des Eis erinnernd, scheinen sich zu spiegeln und ihre Bewegtheiten in dem Mittelpunkt, der sie zugleich trennt und verbindet, zu verlieren.

Haben Sie sich jemals die Frage gestellt, ob Bilder Schatten werfen können? Mich hat diese Frage seit ich denken kann belästigt.
Wird uns unser Schatten vorausgeworfen, was verlieren wir? Wir verlieren die individualisierenden Farbigkeiten unserer Kleidung, unserer Haare und Hüte, unserer Mäntel und Schuhe. Wir verlieren alle sekundären Farbigkeiten, die ja nicht die Wirklichkeit zeigen, sondern lediglich die zurückgewiesenen Teile des Lichts. Wir sind in unserer alltäglichen farbigen Welt umgeben von dem, was abgestoßen wird. Von dem Licht, das nicht im Gegenständlichen versickert ist. Farbe ist die Illusion, die nicht real existiert. Das Licht aber ist physikalisch betrachtet tatsächlich vorhanden, das sich nicht in den Objekten verloren hat. Den illusionären Teil unseres Lebens, nahezu alle Farbigkeiten und Buntheiten räumt ab, was uns in Schwarz und Weiß und Grau begegnet. Was gewinnen wir also, wenn wir uns von unseren Schatten umspielen lassen? Unsere Schatten präsentieren unsere Gestalt. Zum Schatten werden heißt Form-Werden. Deshalb die alten Schwarz-Weiß-Filme so anziehend, weil die Filmemacher jedes Bild komponieren mussten, nicht ablenken konnten durch gegenständliche Inhalte, kein Verstecken hinter Inhalten und schrillen Farben möglich. Das Schwarz und das Licht sind ein Ensemble, denn Schwarz reagiert auf Licht und Schwarz verweist in uns selbst hinein, in unser innerstes Inneres, uns lange unbekannt und darum auch ängstigend, erregend, Neugier weckend?
Ich wiederhole meine Frage: „Können farbige Bildwerke Schatten werfen?“, führe Sie noch einmal im Vorübergehen an dem Ensemble „zurück und vor“ vorbei und zu dem Ensemble „Dominoprojekt“ hin.

[Gang zu „Dominoprojekt“, dabei vorübergehend an „zurück und vor“]


Ausschnitt aus Dominoprojekt, 2008, Acryl a. Lwd., 250 x 250 cm, fünfteilig

Wenn Sie für einen Moment Ihren Blick auf der obersten Tafel ruhen lassen, so bemerken Sie 7 Lichtkugeln, versinkend in Schwarz oder aufsteigend oder entfliehend auf Schwarz oder spielend auf Schwarzgrund.
Wie auch immer das Spiel zu deuten ist, unabweisbar ist die Lehre vom ABSTAND, welche uns beim Blick auf die sieben Punkte vermittelt wird. Ein grundlegendes Geheimnis der abstrakten Malerei ist der ABSTAND.

Ich möchte uns heute die positive Bedeutung des Wortes ABSTAND vor Anne Kolvenbachs Bildern nahe bringen. Seinen Ursprung hat das Wort im 16. Jahrhundert im rechtlichen Bereich und bedeutet „Verzicht auf etwas“ und auch „zurücktreten von einem Amt“. Dies Sich-Isolieren von einer Gruppe spüren wir auch noch in den Aussagen: „Er ließ sie mit Abstand hinter sich zurück.“ „Sie nahm Abstand von der Verlobung.“ Zwar hat die Einsamkeit des Siegers und die Einsamkeit der Entlobten auch genüssliche Züge, aber in dieser Bedeutung von Abstand fehlt genau der Sinn, den der ABSTAND in dem Werk gewinnt, vor dem wir stehen in diesem Augen-Blick.
Sobald zwei Punkte dem Zwang der Linie entsprungen sind, beginnt die Freiheit, divergierende Abstände zueinander einzunehmen. Da ist keine Einsamkeit, da ist eine Beziehung von einem freien Punkt zu einem anderen nicht festgestellten Punkt. Mit dem Ausfallschritt aus der lückenlosen Linie beginnt die Freiheit der unvorhersagbaren Bewegung, schon zwischen zwei Punkten, erst recht zwischen 7 Punkten. In der obersten Tafel vermittelt Anne Kolvenbachs Malerei, was möglich ist, wenn 7 Lichtpunkte, leicht eingeschwärzt, in die Freiheit entlassen sind, sich ihren Ort zu suchen und den ABSTAND als visuelles Ereignis erlebbar zu machen. ABSTAND ist der positive Kernbegriff in den Anfängen der abstrakten Kunst und auch im Ballett und im modernen Tanz. Denn Abstand heißt, differenziert betrachtet, Nähe, genauer: wechselnde Nähe. Der Abstand dieser sieben Punkte zeigt ganz unterschiedliche Annäherungen zwischen diesen Punkten. Dadurch werden Spannungen aufgebaut. Diese Nähe und Ferne wird zu einem noch weit komplexeren Geschehnis zwischen den Linien, Schleifen und Weiß- und Schwarz-Feldern und Kurven in den anderen Tafeln dieses Ensembles.
Die gelungene Spannung in einem Kunstwerk entdecken und verstehen, heißt immer auch, sich auf die vom Künstler komponierten Abstände und Annäherungen sehend einzulassen. Malerei und moderner Tanz leben von der Nutzung des ABSTANDS. Tanz, diese Kunstform, in der kein Verstecken der Tänzer möglich ist, in der jeder mit jedem Schritt sich und sein Alles riskiert, Tanz wäre undenkbar ohne ABSTAND.
Pierre Soulages (1919 geboren) hat mit seiner Kunst des Informel seit 1979 komplett schwarze Bilder gemalt, weil er die Dynamik des Lichtes auf unterschiedlichen Schwarzstrukturen untersuchen und einfangen wollte. Sein Verzicht auf die gestische Malweise und auf Malerei mit gestalteten Abständen war für ihn konsequent, weil für ihn „Schwarz die Urfarbe des Lebens und auch der Malerei“ war und er sich seiner Behauptung gewiss sein konnte: „Schwarz ist in uns drin.“
Gehen wir mit diesem Satz Soulages fragend auf Anne Kolvenbachs Ensemble „Dominoprojekt“ zu, dann bekommen wir zur Antwort, dass in Anne Kolvenbach offen-sichtlich nicht nur die Schwärze herrscht, die sie dem Licht auszusetzen hätte, sondern dass in ihr Bewegtheiten Tumulte erzeugen, die malend in Malerei gebannt werden müssen. Da begegnen sich in der Malerin paradoxerweise Freiheit und Zwang, denn, wie die meisten Künstler kann Anne Kolvenbach gar nicht anders sein als malend, aber sie tut das enthusiastisch und fühlt sich nie freier als in der Malbewegung.
Diese obere Tafel mit den 7 freigestellten Punkten steht im Widerspiel zu der Tafel wenig darunter, die von blitzartigen Lichtlinien durchzogen zu sein scheint. Das Zwanghafte der Linie, ihre Unausweichlichkeit und ihr Rhythmus, der nicht loslässt, zeigt sich besonders kontrastreich im Wechselspiel mit den abstandshaltenden Punkten in der oberen Tafel. Oben also ein freies sich Versammeln zu einem Bewegungsspiel, das noch nicht vorhersagbar ist, unten der unentrinnbare Zwang der Linie, dann aber in den anderen Tafeln das Bewegungsspiel der Malerin Anne Kolvenbach freigesetzt und losgelassen: die grauen, weißen oder schwarzen Farbflächigkeiten nur noch im Dienst, die Bewegungschoreographien aufscheinen zu lassen. Da ist keine errechnete, keine linear ausgedachte Linie mehr, da tanzen sich innerste Bewegtheiten aus. Damit stehen die Arbeiten von Anne Kolvenbach auch im Widerspruch nicht nur zum Informel eines Saoulages, sondern auch zur Konzeptkunst einer Karin Sander (1957 geb.). Für Karin Sander ist „Weiß eine Entscheidung davor. [...] Weiß ist wie eine Plattform, die alles aufnehmen kann.“ Konsequenterweise gibt sich Sander ganz dem Konzept hin, die Vielfalt des Weißen zu untersuchen und sichtbar zu machen, etwa, wenn sie seit 1994 in ihren Wandstücken die weiße Wandfarbe solange polieren lässt, dass die Stellen spiegelglatt werden und den gesamten Raum und alle Lichtreflexe und Einfärbungen spiegeln.
In Anne Kolvenbachs Werk ist nichts Konzept, nichts voraus-gedacht, wohl aber ist alles lineare Bewegtheit, flächige Konstruktion und Dekonstruktion und vor allem ein Spiel mit dem ABSTAND und damit eine Expedition durch den Kontrast, durch die Kontraste, durch das weite Gebiet der Kontraste, das sich endlos auszudehnen vermag zwischen Weiß Grau und Schwarz.
Da Anne Kolvenbach zu unserem Glück trotz dieser Ausdruckkraft von Weiß über Grau bis Schwarz nicht darauf verzichtet, sich in Primär-, Sekundär- und Tertiärfarben gesteigert noch auszudrücken, möchte ich zum Abschluss unseres Weges mit Ihnen zu dem Ensemble „wechseln“ hinüberwechseln.

[Gang zu „wechseln“]


wechseln, 2006, Acryl a. Lwd., 110 x 470 cm, sechsteilig

In dieser Arbeit ist die Farbe behutsam über weite Flächen zum Abdämpfen der Bewegtheiten in einem zwischen Gelb und Blau changierenden Grün eingesetzt, wenn auch kleinere Blaupunktierungen ins Kreisen, Strömen und vielleicht sogar Karussell-Fahren verlocken.

In Anne Kolvenbachs Arbeiten erleben wir eine kompositorische abstrakte Malerei, die weit entfernt ist von weicher Pinselmalerei, meilenweit entfernt von einer Malerei, die sich dem Diffusen und Weichlichen hingibt.
In dieser Ausstellung, die wir auch dem Kunstforum Gummersbach und seiner in Kunstdingen so entschiedenen Ersten Vorsitzenden Jutta Goldbach verdanken, ist gänzlich befreit von jeder Ablenkung und jedem Hilfsgerüst die Malkunst der Anne Kolvenbach erlebbar.

In ihren sehr frühen Arbeiten hatte sie noch ein wenig ablenken können von ihrem Ureigensten durch Collagen, in denen sie Ausschneidepuppen von John Wayne und Marilyn Monroe gegeneinander hetzte. Schon damals nicht der Wirklichkeitsnachbildung wegen, sondern mit dem Ziel, Bildspannungen zwischen der männlichen und der weiblichen Ausschneidefigur zu erzeugen.
Im Nachhinein erscheint auch heute noch weiterhin als zwingend, dass Anne Kolvenbach bei den Arbeiten ihrer ersten Einzelausstellung 1984 in der Galerie Küppers Schnittmuster in ihre Malerei wie selbstverständlich integrierte, denn bis heute ist ihre Malbewegung beeinflusst von ihrer außerordentlichen Fähigkeit, mit einer großen scharfen Schere aus der freien Hand die eigentümlichsten Linienverläufe an meterlangem weißem Papier sichtbar zu machen. Auch Schneiden ist Tanz und Entwurf bei Anne Kolvenbach.
In der heutigen Ausstellung haben Sie die Substanz von Anne Kolvenbachs malerischer Eigenheit und Originalität, die schon in ihren in den allerersten Ausstellungen gezeigten Bildern anklang. Ohne jede Ablenkung wird sichtbar, dass im Werk Anne Kolvenbachs alles Sturz ist, Fall und zugleich Aufschwung, Wiederkehr und Fluchtbewegung und Konzert des Fragmentarischen in den unendlichen Auen der abstrakten Kunst, die keine Gewissheiten zu verkünden hat, aber den immer neuen Ausbruch und Aufbruch riskiert.
Mit dem Begriff des FRAGMENTARISCHEN bin ich am Ende doch noch bei einem Kerngedanken der Frühromantik angekommen. Denn in der Sache sehr treffsicher hat Friedrich Schlegel (1772 – 1829) erkannt, dass der Mensch in seiner Annäherung an das Absolute sich des Fragmentes, des Bruchstückhaften und des Nie-zu-Vollendenden bedienen muss, will er nicht in den täuschenden Sicherheiten des Spießers oder im Kitsch derjenigen verenden, die sich den Schrecken des Seins nicht auszusetzen wagen. Im 116. Athenäumsfragment stellt Schlegel apodiktisch fest: „Die romantische Dichtung ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet werden kann.“ Ich erlaube mir die durch die bildende Kunst seit dem 20. Jahrhundert legitimierte Erweiterung dieses Zitates: „Jede eigenartige Kunst ist noch im Werden, ja dies ist das eigentliche Wesen von Kunstwerken, dass sie ewig nur werden, jedoch nie vollendet sein können.“

Mit diesem letzten Gedanken komme ich gerne auf den Titel dieser Ausstellung „Ensemble“ zurück. Es ergibt sich jetzt nahezu ohne mein Zutun die Einsicht, dass im Zusammenspiel der Bildtafeln, Anne Kolvenbach dem Fragmentarischen allen künstlerischen Tuns Tribut zollt, zugleich aber einer Forderung gerecht wird, die Schlegel in seinem 206ten Athenaeums-Fragment erhebt: "Ein Fragment muss gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein.“

Jetzt sollte ich Sie mit diesem Ensemble und Anne Kolvenbachs Arbeiten alleine lassen. Ich danke Ihnen für Ihr Kommen und Ihre Bewegtheit im fragmentarischen Sein der Kunst.

© Hans Jürgen Kolvenbach
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