Texte
Thomas Brand
Rede zur Eröffnung der Ausstellung „anderswo das Paradies“
Malerei von Anne Kolvenbach und Fotografie von Marcel Kolvenbach
Galerie Splettstößer, im Alten Rathaus Kaarst,
Rathausstraße 3, 41564 Kaarst, 27. Januar 2013
  Übersicht 
  Texte:  01   02   03   04   05   06 
              07   08   09   10   11   12 
              13   14   15   16  
Begrüßung und Dank an Brigitte und Wolfgang Splettstößer

Um wirklich malen zu können, müsse man „den zivilisierten Menschen abschütteln, der auf unseren Schultern hockt, und den Wilden herauslassen, den wir in uns tragen“ (S.34), meint Paul Gauguin in dem Roman „Das Paradies ist anderswo“ von Mario Vargas Llosa. Der berühmte symbolistische Maler am Ende des 19. Jahrhunderts ist einer der beiden Protagonisten im Buch des peruanisch-spanischen Schriftstellers.

Dieser schildert in eindringlichen Worten die Wandlung des Börsenmaklers, der die sittsame sexuelle Zurückhaltung seiner dänischen Ehefrau widerspruchslos akzeptiert und erfolgreich im kapitalistischen Wirtschaftsgetriebe agiert, in einen getriebenen Paradiessucher. Jegliche bürgerliche Sicherheit und allen Anstand wirft er über Bord, um in die Welt der Kunst aufzubrechen. Aus zivilisatorischer Enge bricht er aus und zieht in die Südsee, um der eigenen Wildheit freien Lauf zu lassen, dort jegliche Grenzziehung sexueller Praxis zu sprengen und Bilder mythologischer Tiefe zu schaffen. Letztendlich jedoch verliert er sein Leben, stirbt an den Folgen von Geschlechtskrankheiten.

Ihm gegenüber beschreibt Llosa das Leben von Gauguins Großmutter Flora Tristan. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts streitet sie als engagierte Sozialreformerin für die Gleichberechtigung der Frauen in Familie und Arbeitswelt und für die Rechte der Arbeiterklasse. Sie scheitert jedoch an den Widerständen männlicher Dominanz und der Ignoranz der Kapitaleigner, die nicht bereit sind, angestammte Privilegien aufzugeben und die Früchte der Arbeit zu teilen. Das von ihr beschworene innerweltliche Paradies der Gleichberechtigung der Geschlechter und der gesellschaftlichen Emanzipation der Arbeiterklasse bleibt für sie unerreichbar.

Diesen Hintergrund des von Anne und Marcel Kolvenbach verfassten Ausstellungstitels zu kennen, macht Sinn. Mit dem oben knapp beschriebenen Inhalt des inspirierenden Romans sind wir mitten drin in dem, was es heute zu betrachten gilt: es geht um eine männliche und eine weibliche Sicht auf die Welt, die vielleicht miteinander in Verbindung stehen – schließlich sind es Mutter und Sohn. Des Weiteren geht es um die notwendigen Bedingungen für wirkliche, wahrhaftige Kunst auf der einen Seite und um politisches Engagement für eine bessere, gerechtere Gesellschaft auf der anderen. Und letztendlich ist die beklagenswerte Abwesenheit eines paradiesischen Zustandes angesprochen und die Anstrengungen, die man unternehmen muss, um dieser Abwesenheit tatkräftig etwas entgegen zu setzen.

Bewusst, so hat mir Anne Kolvenbach erklärt, hätten sie und Marcel Afrika nicht direkt ansprechen wollen, Titelideen wie „inside outside Afrika“ verworfen. Nahegelegen hätte es, weil Marcel und seine Frau Ruth mit ihren Kindern Tendo und Alicia zwischen Deutschland und Uganda pendeln. Anne Kolvenbach hat sich, davon angestoßen, seit Jahren immer wieder mit dem südlichen Kontinent beschäftigt, las Bücher, z.B. „Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies“ mit Reportagen von Ryszard Kapuscinski. Sie besuchte Ausstellungen und Völkerkundemuseen und malte mit afrikanischer Erde, die ihre Schwiegertochter Ruth mitbrachte. Immer wieder nahm sie Elemente afrikanischer Kultur in ihre Bilder auf, bezog sich auf Tanzgesten, Szenen des Alltagslebens, Farben und Zeichen, die sie berührten. Für die jetzige Ausstellung jedoch wollte sie unabhängig von einem direkten Bezug sein, der eventuell als illustrierend hätte verstanden werden können, wollte sich frei dem Thema des Paradieses nähern. Und auch Marcel Kolvenbach wäre es nicht recht gewesen, wenn man den Eindruck hätte gewinnen können, dass man nur in Afrika Paradiesisches vermissen würde.

Zuerst habe ich Gelegenheit, mit Anne Kolvenbach über ihre Malerei und den Titel der Ausstellung zu sprechen. Die Schöpfung an sich, die uns gegebene Natur, sei eine einzige Einverleibung, stellt die Künstlerin fest. Ein Tier fresse das nächste, das größere das kleinere. Wir würden dabei keine Ausnahme machen, benähmen uns genauso tierisch wie die nichtmenschlichen Wesen der Schöpfung. Tief seien wir in diesen nie abreißenden Fluss der Vernichtung verstrickt, in uns selbst gefangen. Dies gelte auch für Paul Gauguin, der in seine Gier nach Animalischem verstrickt gewesen sei. Schon zu seiner Zeit hätte sich kaum noch unberührte Wildnis finden lassen. Nein, eine Suche nach absoluter Harmonie müsse woanders ansetzen. Paradiesische Zustände seien erst erreicht, wenn es ein Ende dieser Einverleibung gäbe, wenn alles durch Liebe miteinander verbunden sei, wenn wir im Einklang mit der Natur leben könnten. Aber dazu dürfe es eigentlich auch keine Zeit geben, und damit keine Vergänglichkeit und keinen Tod, ergänzt sie schlussfolgernd. Das aber scheine ihr unerreichbar. Also könne es höchstens anderswo so etwas wie ein Paradies geben. Kann es die Kunst sein, vielleicht auch nur temporär, frage ich mich.

Während Anne Kolvenbach mir ihre Haltung darlegt, stehen wir inmitten ihres großen Gartens am Rande von Neuss. Hinter dem Zaun beginnt freie Landschaft mit den Feldern des Niederrheins, unterbrochen nur vom Damm der Autobahn nach Mönchengladbach. Hier steht das helle Gartenatelier der Malerin, das klug in einen hölzernen Schuppen eingebaut ist. Eine wunderbare Klause, um zu sich zu kommen, um die Bewegungen des eigenen Inneren in Bildern fassen zu können. Durch eine Fensterwand schauen wir hinaus auf eine Wiese, auf große Bäume, Büsche, den winterlich ruhenden Teich, in dessen Schlamm sich Schildkröten eingegraben haben. Natürlich liegt es nah, über die Natur als Garten zu sprechen. „Das ist ein altes Thema“, entgegnet mir die Malerin. „Es zieht sich durch die gesamte Kunstgeschichte und existiert in vielen Kulturen. Und auch mich beschäftigt es schon lange. Meist bezogen sich Gartengestaltungen auf Paradiesvorstellungen von der Natur, versuchten das Bild einer geklärten, befriedeten Natur heraufzubeschwören, die sich unter menschlicher Kontrolle befindet. Ursprüngliche, chaotische Wildheit sollte durch menschlichen Eingriff kultiviert werden. Denn Kultur ist etwas Gepflegtes, eine gezähmte Wildheit. Natürlich hat das allumfassende Grün, das seit meiner Kindheit um mich ist, einen Einfluss auf meine Bilder gehabt. Schließlich war mein Vater Gärtner und hatte später ein Samengeschäft. Dieser Garten ist sein Werk, selbst der hölzerne Schuppen. Hier bin ich aufgewachsen, habe schon früh der von meinem Vater vertretenen Welt der Natur meine der Kultur gegenübergestellt, Musik, Tanz, Literatur, vor allem Malen und Zeichnen. Doch greift dies zu kurz, denn mein Vater war mir mit seinen zeichnerischen und bildhauerischen Fähigkeiten auch nah. Dennoch oder gerade deshalb würde ich aber lieber auf dem Drahtseil tanzen können als in der Erde buddeln. Aber nur, wenn es dort keinen Ton gäbe. Denn als plastisches Material liebe ich ihn sehr. Wie man es auch nimmt: in mir gibt es beide Kräfte, Natur und Kultur. Wenn es gelingt, bringe ich sie in meinen Bildern zum Ausgleich.“

Um die neuen Bilder zu betrachten, verlassen wir das Gartenatelier und steigen ins warme Haus empor. Gedämpfter, sanfter sind die Farbtöne der neuen Bilder, die Gesten zurückhaltender. Und doch sind es typische Kolvenbachs. In der Überlagerung der lasierend aufgetragenen Ebenen aus dynamisierten Formmotiven, im Schwung des Farbauftrages, im gestischen Umgreifen des gesamten Bildraumes und im komplementären Klang der Gegenüberstellung warmer und kühler Töne. „Natürlich ist immer das Standortlicht entscheidend“, bemerkt Anne Kolvenbach. „Aber auch das Raumvolumen des Ortes, an dem ich male, und des Ortes, an dem die Werke gezeigt werden sollen. Dies bestimmt meinen Gestus, ob er ausladend oder eher verhalten ist. Hier nun habe ich viel mehr aus dem Handgelenk als aus dem gesamten Körper heraus agiert. Es sind eher Bilder herbstlicher Aktivität.“ Vor allem kennt man sie mit starken Kontrasten und schwungvoller Pinselschrift, gibt die Künstlerin zu. Am liebsten ist sie auch im Süden, hat sich am besten gefühlt in Kalabrien, Südfrankreich und Spanien, dort, wo es starke Kontraste zwischen Licht und Schatten gibt. Einmal nur ist sie als junge Frau nach Norwegen gefahren. Das Licht, die Landschaft und die Menschen dort waren aber zu melancholisch, boten kein Futter für ihre Malerei.

Und dann fällt mir ein Formmotiv auf, das sich auffallend durch die gesamte Reihe der neuen Bilder zieht, ein frei sich den Weg bahnendes Farbrinnsal. Ohne gestische Einflussnahme lässt die Künstlerin farbige Flüssigkeit über den Bildträger fließen, die sich eher chaotisch ihren eigenen Weg bahnt, sich willkürlich verzweigt, nur ab und an durch Drehen der Leinwand abgelenkt wird. „Wenn ich die entstehenden Strukturen betrachte, so kommt mir der Begriff „verschlingen“ in den Sinn“, fällt ihr auf. „Einerseits legen sich die Farbspuren wie Schlingen um die anderen Motive.
Andererseits lässt „Verschlingen“ an die allumfassende Einverleibung denken, die als Prinzip die Natur beherrscht.“
„Vielleicht ist Anne Kolvenbach ja doch eine Art Gärtnerin…“, denke ich, nachdem wir das Gespräch bei Plätzen und Kaffee beenden. „…und ihre Bilder ein Stück Gartenwerk…“

Einige Tage später besucht mich Marcel Kolvenbach. In meiner Dachklause können wir, ungestört von Kinderlärm, seine Fotografien auf dem Laptop betrachten. Für mich beginnt eine spannende Vorlesung. Stichworte füllen schnell Seite um Seite. Und möchte nun versuchen, sie am Gelernten etwas teilhaben zu lassen.

Wissen Sie, was ein MUZUNGU ist? Wahrscheinlich beherrschen nur wenige unter uns Suaheli, die Volkssprache in Ostafrika, ein Mischmasch aus Arabisch, lokalen Bantu-Sprachen, Portugiesisch und Deutsch. Eine Sprache, die entsteht, wenn Vertreter all dieser Länder miteinander in einer Region Handel treiben. Elfenbein und Weihrauch sind schließlich seit Jahrhunderten begehrtes Handelsgut und waren dort immer reichlich vorhanden. Nannte man früher jemanden einen MUZUNGU, so war es ein ziellos umherirrender Fremder, der nicht als Handelsreisender oder Nomade auszumachen war. Araber, Chinesen oder Inder werden auch heute nicht so genannt. Erscheint aber ein Weißer auf der Bildfläche, so mag man das Wort allenthalben raunen hören.

Marcel Kolvenbach, dessen Fotografien aus Afrika es nun zu betrachten gilt, ist, wie Sie sich schon denken können, aus afrikanischer Wahrnehmung ein MUZUNGU, der LUZUNGU spricht. Wobei es für den unbedarften afrikanischen Betrachter nur schwer verständlich ist, dass es sich hier nicht nur um Englisch handeln kann, dass es viele Sprachen der Weißen gibt, deren Vertreter sich untereinander auch eher als MUZUNGU wahrnehmen. Und MUZUNGU bleibt Marcel Kolvenbach auch, obwohl er mit Ruth verheiratet ist, die einem bedeutenden Halbnomadenstamm Ugandas entstammt. Das nomadische Leben ist für ihn, dessen Website nicht ohne Grund schon lange „publicnomad“ heißt, eine selbstverständliche Existenz geworden. Er, Ruth und ihre beiden Kindern Tendo und Alicia sind in Deutschland und Kampala, der Drei-Millionen-Hauptstadt Ugandas, in gleicher Weise zuhause.

Marcel Kolvenbach ist Dokumentarfilmer, der ständig in Afrika unterwegs ist. Zwölf Länder des Kontinents hat er bei seiner Arbeit schon kennengelernt, drei bis vier davon intensiv. Neben Uganda gehören in Ostafrika Kenia und Tansania mit den Inseln Pemba und Sansibar dazu. In Westafrika ist es Mali mit dem armen, aber stolzen Stamm der Tuareg, auf deren altes Wissen vom Überleben in der Wüste jeder Fremde angewiesen ist. Fotografieren ist sein Spielbein. Es geschieht auf eigene Faust, ohne Auftrag, manchmal parallel zur Arbeit. Ohne diese vor- oder nachzubereiten, manchmal ganz privat im familiären Rahmen. „Meist“, erzählt er mir, „fotografiere mit Blende 1.4, 50mm fester Brennweite und 1/25 Verschlusszeit. Und das schon seit fast 30 Jahren, mit meiner 35 mm Contax. Bis heute, ganz antiquiert, auf Negativmaterial. Das entspricht ungefähr der Geschwindigkeit, mit der wir Gesehenes erfassen. Nur das, was sich relativ ruhig verhält, wird scharf gezeichnet. Alles andere verschwimmt mehr oder minder stark.“

Ist man als MUZUNGU mit der Kamera in Afrika unterwegs, wird man oft der gleichen Szene begegnen: die Menschen, ob alt oder jung, halten inne, posieren zurückhaltend oder offensiv, fühlen sich sichtbar durch das Fotografiert-werden geehrt. Zu Recht oder Unrecht wird der MUZUNGU einer gehobenen, bewunderten, aber auch gefürchteten Gesellschaftsgruppe zugeordnet. „Als Europäer verschmilzt man in Afrika, anders als z.B. in den USA oder Lateinamerika, niemals mit seiner Umgebung“, schreibt Marcel Kolvenbach in einem kleinen Text. „Immer ist man schon der Beobachtete, lange bevor man selber zum Beobachter oder Bilderfänger wird, und lange noch danach…“ Und dennoch gab es für ihn, wie er schreibt, immer wieder Momente, „wo ich in einer Landschaft stand und einfach DA war. Ein Gefühl, das hier so selten geworden ist. Wo man durch Shoppingmalls, Rolltreppen, U-Bahnschächte, Stahlgerüste und Autobahnasphalt von dem direkten Kontakt mit der Erde und den Elementen getrennt ist. Selbst Wanderwege sind befestigt und ausführlich beschildert. Auf meinen Reisen aber gab es Momente der großen Unmittelbarkeit, als ich in den Niger gesprungen bin oder auf dem Dach eines Bootes über dem großen Fluss in der Nacht lag, über mir die Sterne, die einzigen Lichter auf einhundert Kilometern.“ Dazu passt, so denke ich, auch hier der Titel „Anderswo das Paradies“.

Wir schauen uns Bilder kleiner Jungs an, die mit Inbrunst Kampfhaltungen imitieren. „Kung-Fu-Filme sind der Renner“, kommentiert Marcel Kolvenbach die Bilder. „Alle Jungs kennen sie - Video-Halls gibt es in fast jedem Dorf. Da muss eine einzelne Familie keinen Fernseher haben, damit den Kindern globalisierte Archetypen männlicher Tatkraft vertraut sind. Immer noch gibt es Erzähler, allgemein angesehene Bewahrer der oral history, die in diesen Gesellschaften mit ihrem hohen Anteil von Analphabeten einen angestammten Platz innehaben. Mit viel Wortwitz und manchmal noch mehr Erfindungsgabe kommentieren sie die in englischer Sprache gezeigten Filme. Ob das von ihnen Erzählte dem originalen Sinn entspricht, bleibt letztendlich unwichtig.

Als ich nach der Herkunft der Kleidung der vier gestikulierenden Jungs frage, zeigt mir Marcel seinen Mantel, ein Markenstück bester Qualität. „Aus Europa“, bemerkt er. „Hier von Wohlhabenden erworben, nach kurzer Zeit abgelegt und zur Altkleidersammlung gegeben, taucht das gute Stück kurze Zeit später in Afrika wieder auf, wo es meist zum Kilopreis für wenig Geld angeboten wird. Auch die T-Shirts der Jungen haben keinen afrikanischen Ursprung, waren fast neu, als sie von ihren Müttern auf dem afrikanischen Markt gekauft wurden. Nun sind sie monatelang getragen und davon entsprechend gezeichnet. Was man auf dem Foto nicht sehen kann, ist, dass ich die Jungen während der Schulzeit unweit einer Schule fotografiert habe. Eigentlich hätten sie dort sein sollen, gehören aber zu den Ärmsten des Ortes. Nicht einmal die Anfertigung der obligaten Schulkleidung können sich ihre Eltern leisten, und den kleinen Obulus für die Raumnutzung und die Beschaffung der Bücher. Die schönen blauen Schuluniformen, die man auf dem nächsten Bild sehen kann, sind übrigens immer „made in Africa“ und damit eine wichtige Einkommensquelle für die heimischen Schneider.“

Doch noch einmal zurück zu den MUZUNGU. Immer wieder tauchen in der Fotostrecke von Marcel Kolvenbach Weiße auf, Menschen, die z.T. seit Jahren fest in Afrika wohnen. Und doch bleiben sie MUZUNGU. „Viele von uns sind dabei in zweierlei Weise Boten des Paradieses“, erläutert mir der Fotograf. „Den Europäern vermitteln wir Sehnsuchtsbilder, die den archetypischen Vorstellungen eines paradiesischen Urzustandes nahekommen. Schließlich gibt es auf der in 1300 Metern Höhe gelegenen Landschaft um Kampala ideale Lebensbedingungen. Bei ganzjährig 16-25 °C braucht man nicht zu frieren und zu schwitzen, findet gesunde Nahrung und ausreichend Wasser. Kein Wunder, dass man in dem Gebiet zwischen dem westlichen und östlichen Rift des zentralafrikanischen Grabens die Wiege der Menschheit vermutet.

Den Afrikanern hingegen erscheint der MUZUNGU als Bote der paradiesischen westlichen Welt, die ihnen mehr als vertraut ist. Spätestens seit Erfindung des digitalen Fernsehens, von Video-Filmen und Youtube-Clips. Sie wissen, wie unsere Wohnzimmer aussehen, wie wir Sex haben, wie uns die Euro-Krise bedrängt. Viel Sehnsucht wird dadurch geweckt. So werden wir zu Hoffnungsträgern, die in der Lage zu sein scheinen, sie hinweg zu nehmen aus ihrem Elend, und ihnen helfen könnten, unser Land zu besuchen.

„Wie sonst wohl kaum auf der Welt“, fährt Marcel Kolvenbach fort, „bekommt man in Afrika für minimalen Einsatz, für ein bisschen Geld, sofort ein ungemein intensives Feedback. Wer auf der Sinnsuche ist, von Geltungsbedürfnis geplagt oder sich leer fühlt, wird in Afrika schnell fündig. Es ist ein Land voller Probleme, die sofort angepackt werden können. Tust Du dies, schlägt Dir unmittelbar Dankbarkeit entgegen. Später erst ergeben sich Probleme, treten Neid und Missgunst auf den Plan.“ Jutta, deren Bild mir Marcel Kolvenbach zeigt, gehört zu diesen Sinnsuchern. Eine ehemalige Lehrerin aus Düsseldorf, die dort zwei Wohnungen besitzt, von deren Mieteinnahmen sie lebt. Mit einer gewissen STUBBORNNESS, Dickköpfigkeit, hat sie ihre feministischen Ideen in Afrika umgesetzt, hat mehrere Projekte mit Frauen auf den Weg gebracht und betreut.

„Überall dort begegnet man Weltverbesserern“, erzählt mir Marcel Kolvenbach und schreibt in seinem kleinen Text: „Viele Mitarbeiter der UN oder von NGOs sind gekommen, um die Armut zu bekämpfen. Viele von ihnen leben eine gespaltene Persönlichkeit. Nachdem sie sich acht Stunden lang mit dem Elend auseinandersetzen, treffen sie sich am Abend im „Club“ mit den „Leidensgenossen“ auf einen edlen Schluck Wein und schwadronieren über das Scheitern Afrikas…“ Daneben gibt es natürlich auch die Typen, die das große Abenteuer suchen, für die Afrika eine Herausforderung ist, wie für andere die Besteigung eines Viertausenders. „Und darüber hinaus die weißen Gewinner-Typen“, erzählt der Filmer mir. „Die Manager großer Firmen, die in Afrika aktiv sind.“

Afrika ist ein Kontinent der Extreme mit zwei Gesichtern, wird mir von Bild zu Bild klarer. Er hat ein hypermodernes Angesicht mit High-Speed-Internet-Verkabelung bis in die kleinsten Orte, mit einer Infrastruktur, die vornehmlich von Chinesen systematisch vorangetrieben wird, und leistungsfähigen modernen Universitäten wie z.B. in Kampala, wo junge Afrikaner zu Top-Programmierern ausgebildet werden. Dort gibt es Grundstückspreise wie in München, Düsseldorf und Hamburg, und eine Elite, deren Lebensstil wie bei so manchen MUZUNGUS von SUVs und Tablet Computern bestimmt ist.

Nicht weit davon existiert aber das traditionelle afrikanische Leben. Dort schlagen etwa tagaus, tagein, wie es Marcel Kolvenbachs Fotos zeigen, Menschen Felsen in kleine Stücke, wie Gustave Courbet es noch 1849 authentisch für Frankreich auf einem berühmten Bild darstellt hat. Solche und ähnliche Jobs lassen sich überall in Afrika finden. Und Wohnen-auf-dem-Land heißt nach wie vor, dass jeder einzelne Lebensbereich, ob Schlafen oder Vorratshaltung, eine gesonderte Hütte erhält, während sich das Gemeinschaftsleben auf dem dazwischenliegenden Hof abspielt. Ständig präsent sind auch die magic heelers, die Naturheiler, denen immer wieder unterstellt wird, die eigentliche politische Macht darzustellen und dabei auch vor Menschenopfern nicht zurück zu schrecken. Und letztendlich gehört zum traditionellen Afrika, jedenfalls dort, wo es vom Islam geprägt ist, dass die Männer zwar formell die Chefs sind, im alltäglichen Leben aber von der Dominanz der Frauen verdrängt werden. „Die afrikanische Familie“, berichtet Marcel Kolvenbach, „so wie ich sie erlebt habe, ist matriarchalisch geprägt. Etwas abschätzig könnte man davon sprechen, dass der Mann kaum mehr als ein geduldeter Samenspender ist. Denn oft hat er mehrere Frauen, auch an unterschiedlichen Orten, und kann schon aus diesem Grund nur zeitweise in den Familien anwesend sein.“

Afrika ist für uns auch der Kontinent dramatischer politischer Konflikte. Marcel Kolvenbach empfiehlt mir zum Verständnis die Lektüre von „The Tribe“ von Tom Stacy. Dieses Buch habe ihm die Augen für eine zentrale Ursache der vielen Dramen geöffnet. Nach Stacy gibt es dort traditionell drei unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Die Bantu sind sesshafte Bauern mit einem ausgeprägten Wissen um nachhaltiges Wirtschaften, um schonenden Umgang mit den natürlichen Ressourcen. Dem gegenüber stehen die Hamiten, ein nomadisch lebendes, kriegerisches Hirtenvolk, und die Niloten, die ebenfalls kriegerisch sind und nomadisch leben. Beide Gruppen jedoch fehlt es an Kenntnissen, die für ein fortdauerndes Leben an einem Ort, die Organisation von Handel und den Aufbau einer stabilen Regierung notwendig sind. Als die Kolonialherren kamen und die hochentwickelten, traditionellen Staatsgebilde zerstört hatten, haben sie sich der kriegerischen Nomaden als Polizeikräfte und zur Aufstellung einer Kolonialarmee bedient und ihnen damit eine Vormachtstellung gegenüber den Bantu eingeräumt. Aus dieser Zeit noch stammt das verzerrte Verständnis von Herrschaft in Afrika: mordend, vergewaltigend und brandschatzend raubt man einen Landstrich aus und zieht dann weiter. Das höchste Ansehen genießt wie in den nomadischen Gesellschaften der, der viel stiehlt, der sich schnell am meisten anzueignen in der Lage ist. Dass Staaten oft von Menschen mit dieser Gesinnung regiert werden, zeugt nur davon, dass sie Ahnung von Machtausübung, aber nicht von guter Regierung haben. „Wer so wenig davon versteht, wie man z.B. fürsorglich mit der Natur umgeht, damit sie auch noch die eigenen Enkel ernähren kann, der schlägt auch alle Bäume um, die ihn nur stören“, gibt Marcel Kolvenbach am Ende unseres Gespräches zu bedenken.

Hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich abbrechen, auch wenn es noch viel aus und über Afrika zu berichten gäbe. Das zu erkunden überlasse ich nun Ihnen, bedanke mich für die guten Gespräche bei den Ausstellenden und bei Ihnen für Ihre ausdauernde Aufmerksamkeit. Uns allen wünsche ich noch ein schönes Wochenende.

© Thomas Brandt
 nach oben