Texte
Gabriele Uerscheln
Gedanken zur Finissage der Ausstellung „anderswo das Paradies“
von Anne Kolvenbach und Marcel Kolvenbach
vorgetragen in der Galerie Splettstößer, Kaarst, 02. März 2013
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Anne Kolvenbach und Marcel Kolvenbach haben in den letzten Wochen ihre Bilder und Photographien unter einem Titel gezeigt, der zur Suche nach dem Paradies geradezu herausfordert, denn: Wo ist es, das Paradies, wenn nicht hier und jetzt - so impliziert es der Ausstellungstitel -, sondern eben anderswo? Und: Welche Vorstellungen vom Paradies bewegen uns überhaupt?
Anne Kolvenbach begibt sich mit ihren Arbeiten in die unendlich vielen Bewußtseinsströme, Formen und Farben, die unsere Lebenswelten bestimmen. Nichts kann angesichts dieser Unendlichkeit im Großen wie im Kleinen wirklichkeitsabbildend bleiben, wenn man so intensiv wie die Künstlerin um das wahre Sehen dessen, was jenseits des vordergründig Sichtbaren ist, ringt. Anne Kolvenbach läßt nicht nach, verfolgt, was sie selbst im Blick auf das, was scheinbar ist, gesetzt hat: Wohin strebt die Linie - nennen wir sie Gedanken-flüsse -, wie breit macht sich eine Fläche - nennen wir sie Vorstellungen- ? Was ist dahinter, was darüber und was darunter? Wo finden Begegnungen oder Verschiebungen statt, wo nur feine Berührungen? Wer dominiert den Bildraum? Und schließlich: Wo findet das Leben in den Räumen ihrer Bilder statt? Die Farbigkeit ist stets einen Hauch gedämpft, in allen Bildräumen mag man eine feine Melancholie aufklingen hören. Das Paradies ist eben anderswo ...
Marcel Kolvenbach spürt dem wahren Sehen mit Photographien nach. Die Möglichkeit, seine Arbeiten als Abbild von Wirklichkeiten zu nehmen, ist verführerisch, aber zu leicht gewogen. Fast überflüssig zu sagen, dass bei jeder Arbeit schnell klar wird, dass die Photographien so aufgenommen und bearbeitet wurden, wie es nur jemand kann, der ein gründliches Studium und unendlich reiche Seherfahrung mitbringt. In der Bilderflut unserer Wirklichkeiten findet Marcel Kolvenbach exakt den so schwer faßbaren Moment, in dem Menschen, Landschaften und Ereignisse aus dem Fluß der Zeit geborgen werden können und in den Photographien zur Idee ihrer selbst werden. Gerade so wie in den Tableaus von Anne Kolvenbach, aber doch so anders. Es gilt, das Abbildhafte im engsten Wortsinn zu hinterfragen.
Die Blicke von zwei sicher als schön empfundenen Frauen, Mutter und Tochter, beheimatet in Afrika, einem Kontinent, von dem wir in der Regel allzu wenig wissen, sind direkt auf den Betrachter gerichtet, ein Dialog kann entstehen, der im besten Fall Interesse im engen Wortsinn weckt. Im Ausstellungsraum geht die Kommunikation darüber hinaus. Die Blicke der beiden Frauen lenken auch auf die gegenüberliegende Wand, wo Anne Kolvenbachs ‚Gärten‘ platziert sind: ‚Tibidabo‘, ‚Tamanaku‘ und ‚an einem anderen Ort‘. Ob das die Paradiese sind, die zur Vorstellungswelt der beiden Frauen gehören? Was ist diesen Menschen das Paradies?
Liegt es fern auf einem anderen Kontinent in einer durch und durch technisierten Welt oder in den geschlossenen Beziehungsgefügen ihrer Traditionen mit ihren eigenen Utopien?
Im Zwischenraum von Photographien und Bildern entsteht die Kommunikation der Betrachtenden, die janusköpfig die Blickrichtungen aufnehmen und Erkentnisachsen evozieren können.
In ‚Tibidabo‘ spürt Anne Kolvenbach der Versuchung von Jesus nach, so wie im Neuen Testament beschrieben ist. Es heißt dort, daß Satan Jesus die Herrlichkeiten der Welt zeigte, um ihn von seinem Auftrag, die Menschheit zu erlösen, abzubringen. „Das kann alles Dir gehören!“ Ein anmaßendes Angebot, sollte es doch Regentschaft über ein irdisches Paradies bedeuten, das keines ist - es ist ja anderswo. Nach christlicher Lehre sehr fern im Himmlischen Jerusalem.
In der Genesis ist festgehalten, dass Adam und Eva, das erste Menschenpaar, in ille temporae aus dem Paradies vertrieben wurden. Der Garten Eden zeichnete sich aus als ein Sein ohne Lebensnot, ohne eigenen Produktionszwang, ewigen Frühling, ohne Tod und immerwährenden Frieden mit sich und allen Geschöpfen auf Erden. Doch dieser Garten Eden sollte der Versuchung zur Erkenntnis zum Opfer fallen - die vielzitierte ‚Subjekt-Objekt-Spaltung‘. Die Vertreibung aus dem Paradies bedeutete fortan Arbeit, um die Erde nutzen zu können.
Die Sehnsucht nach dem Verlorenen, dem Bild vom Paradies als Entlastungsfigur par exellence sollte bleiben und sich in Vorstellungen aus Menschenhand spiegeln, die Lebensweisen ohne Not und - mehr noch - des Überflüssigen imaginieren. Das Gebot, die Erde zu nutzen, wurde in großzügiger Auslegung der Genesis als gültig gesetzt. Nicht ‚Nutzen‘, sondern ‚Untertanmachen‘ wurde die Devise. Unternehmungen sind bis heute legitimiert, die das Verbliebene außerhalb des Paradieses - symbolisch: Dornen und Disteln - überbieten, um den Status als Krone der Schöpfung zu erlangen, als selbstbewußte Nobilitierung der eigenen Schöpfung aus Menschenhand. Die große Geschichte der Gartenkunst legt deutliches Zeichen ab, wie Menschen sich im Laufe der Geschichte den Garten Eden vorgestellt haben - und das bis heute. Als wunderbare Luxusgeschöpfe spiegeln sie Sehnsucht nach Ordnung, Fruchtbarkeit und einem Dasein ohne Lebensnot. Doch solche Paradiese zu schaffen und zu erhalten erfordert schweißtreibende Arbeit - das Paradies ist eben anderswo.
Wörtlich aus dem persischen übersetzt meint Paradies ‚grüner Fleck‘. Ein Blick auf Oasen inmitten von Wüsten verdeutlicht schnell, warum dieser Begriff so unerschütterlich tradiert wurde und bis heute bezeichnenderweise oft als Synonym für kunstvolle Gärten verwendet wird. Schwerlich kann das ‚Paradies‘ in der sogenannten unberührten Natur gefunden werden. Vielmehr kann Natur als das große Unbewußte gelten mit allen Abgründen und für viele Menschen schwer zu ertragenden Gesetzen des Überlebenswillens. Das Paradies ist eben anderswo ...
Die Bilder von Anne Kolvenbach und die Kunstphotographien von Marcel Kolvenbach sind auch schöpferische Dokumente, warum das Paradies anderswo ist, gleichwohl geahnt werden kann, wo es sein könnte.
Beide, Künstlerin und Kunstphotograph haben sich der Arbeit am Ästhetischen im ursprünglichen Sinn verschrieben. Wahr ist, wie hart die Arbeit in einem Steinbruch in Uganda ist, wahr ist die für europäische Augen malerische Schönheit von Wasserträgerinnen, wahr ist der Moment, wie der Stamm der Tuareg Kriegsrat hält. Und wahr ist auch, wie in Downtown, Kampala, urbane Architektur Land frißt, Hier spürt Marcel Kolvenbach die Demarkationslinie zwischen "Rohem" und "Gekochtem" (Claude Lévy-Strauss) auf und hält sie fest.
Führen diese Bilder in eine melancholische Grundstimmung?
Im Jahr 1621 veröffentlichte der englische Gelehrte Robert Burton (1577-1640) als ‚Democritus junior‘ seine Schrift The Anatomy of Melancholy. Mehr als hundert Jahre zuvor hatte Albrecht Dürer in seinem Kupferstich Melencolia I von 1514 ins Bild gesetzt, wie rätselhaft die Gemütsverfassung einer tiefen Traurigkeit ist, die seit alters her Menschen erfassen kann, wenn sie das eigene Treiben aufmerksam in den Blick nehmen. Während in der antiken Temperamenten- und Säftelehre ihr Ursprung in einem überbordenden Fluß von ‚schwarzer Galle‘ vermutet wurde, der auch der Grund für überragende schöpferische Leistungen sein kann, warnten christliche Glaubensvertreter vor Teufelswerk: sie benannten die „Trägheit des Herzens“ oder des stumpfens Brütens als Acedia, die alles Erhebende ausschließt, monastisches Leben bedroht und zählten sie zu den Todsünden. Walter Benjamin nannte die Melancholie in seiner Schrift ‚Ursprung des deutschen Trauerspiels‘ „Trägheit des Herzens“.
Nein, träge macht die Behauptung „anderswo das Paradies“ nicht, im Gegenteil provozieren die Bilder der Ausstellung zur Suche nach dem Paradies - nah und fern, im Kleinen und im Großen.

© Gabriele Uerscheln
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