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Giovanni Tamanaco
Katalogtext zur Ausstellung „Raute an Raute“ 2017
Atelierhaus Neuss, Hansaallee, Hafenbecken 2


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Raute an Raute

Wenn Farbe sich von den Körpern der Gegenstände löst, wenn Farbe sich aufmacht in die Freiheit der Fläche, dann liefert sie sich an die Setzungen der Malerin aus. Auf der Leinwand bringen die Maler nach ihrem innersten Wollen die Klänge jeder Farbe - eigenartige und unartige - im Rhythmus ihres Zusammenspiels in eine unveränderliche Dauer.
Bewegte Dauer im Bild - ein Paradoxon subtilster und beglückendster Art -, denn eigentlich verwehen Töne ja mit der ständig entschwindenden Zeit. Alles fließt. Im Bild jedoch ist das Tönen der Farbe unveränderlich dauerhaft. Das Bild in unserem Blick haltend, kann das Erklingen der Farben von uns Betrachtern dort immer neu abgelauscht werden.

Die Befreiung von der Gegenstandsbestimmung führt die Farbe keineswegs in unbegrenzte Freiheit, nicht in die Unendlichkeit einer Fläche. Die Grenzen der Leinwand beeinflussen auf subtile Weise das Spiel der Farben.
Die quadratische Leinwand lockt und fordert die Malerin, den Maler mit größtmöglich denkbarer innerer Statik. Vielleicht weil Innenkreis und Umkreis des Quadrates jedem Punkt unveränderliche und unbeeinflussbare Bedeutung zuweisen.
Liegende Lässigkeit dagegen und Erzählfluss dient das waagerechte Rechteck an.
Demonstrative Positionierung oder aber auch unbequemen Stand, Über- und Unterordnung und Enge und Drängelei an den Längstseiten vermittelt das senkrechte Rechteck.
Die Raute hingegen lockt mit den Beweglichkeiten und den Freiheiten des Hin- und Her- und Auf- und Niederflutens, vielleicht zu vergleichen mit den Zufallsfreiheiten, welche den farbigen Glassplittern beim Schütteln des Kaleidoskopes eingeräumt werden.

Mit frei aus der Hand geschnittenen Papierformen sind im Malprozess Teilflächen der Raute abgedeckt und so die ersten Untermalungen stellenweise vor der zweiten Übermalung geschützt worden. Bei einigen Rauten überdecken die Farbformen und Farbflächen aus dem Handgelenk dahingetanzte grau-schwarze Bewegungen so sättigend, dass nur noch an wenigen Weißflecken eine Bewegung auftaucht und sogleich wieder verschwindet. Immer wieder aber öffnen sich von der zweiten Übermalung verschonte Freiflächen und verraten, wie im ersten Malprozess von der Malerin in allen Zwischentönen von Schwarz zu Grau zu Weiß in schnellem Schwung ein beunruhigend gestisches erstes Bild erzeugt worden ist, dessen Widerstand gegen die weiteren Malakte in den Rauten erfahrbar bleibt, weil das Verschwinden des Schwarz-Grau-Weiß zwischen und unter den Farbflächen und -figuren unauslöschlich im Bild erhalten ist.
In vielen Rauten bleibt diese Schwarz-Grau-Weiß Untermalung so bewegt im Bild, dass die gelassene Ruhe der Farbelemente und Flächen weit intensiver erlebt wird. Für alle, die von Inhalten befreite Kunst im Sehen zu Hören vermögen, sind diese Rauten nichts anderes als rhythm and blues.

Bei ihrer Malerei spielt Kolvenbach auch in immer neuen Anläufen auf die Eigenheiten der Rautenaußenform an, auf die vier Winkel, die beiden spitzen und die beiden stumpfen, auf die beiden gleichgroßen Dreiecke, aus denen sich die Raute zusammensetzt, auf die Deformationen, die man einem flexiblen Rautenrahmen durch Druck zufügen könnte. Kolvenbach nutzt geometrische Formen, die im Kontrast zur Linearität der Raute stehen: Kreisformen, Ovale und kurvige Formen. Durch Verwischungen, Schlierenbildung und zerfasernde Flächen löst sie dann aber immer neu geordnete Grenzziehungen auf. In einigen Rauten werden am Ende des Malprozesses schmale Parallelspuren in die Kontinuität einer Farbe eingekratzt bis in die Tiefe des Malgrundes. Für den Betrachter, die Betrachterin entsteht ein Spiel von Farben und Formen, von Figur und Grund, bei dem fühlbar und erlebbar wird, dass auf nicht mehr unterscheidbare Weise Zufall und Konstruktion in einen wirbelnden Tanz miteinander versetzt worden sind.
Nicht Zufall, sondern überraschendes Konzept von Kolvenbach ist es, dass sie Rauten dadurch in ein zwingendes Zusammenspiel als Ensemble bringt, dass bestimmte Teilflächen mehrerer Rauten und manchmal sogar ihre Dreieckshälften, in die man Rauten ja klappsymmetrisch unterteilen könnte, farblich so miteinander harmonieren und korrespondieren, dass es einfach zwingend und selbstverständlich wirkt, die Rauten zu zweit oder zu dritt oder zu viert, zu fünft, ja zu sechst gegeneinander zu rücken und in ihrem gemeinsamen Farbklang als Ensemble wirksam werden zu lassen.
In diesen Ensembles entsteht dann wie nebenbei nicht nur ein neuer Farbklang, es entstehen nicht vorhersagbare bewegte Gesamtformen, welche die Strenge der Raute in sich überwunden zurücklassen. Sie überlassen dem Betrachter, der Betrachterin ob er sich erinnert fühlen mag an Flugobjekte, an Unterwasserwesen, an mäandernde oder sich dahin schlängelnde geometrische Figuren. Ein geheimes Eigenleben führen die neuen Großformen, verharren manchmal nicht einmal auf einer Wandfläche, sondern machen sich - wie das Ensemble 2 – auf. Flüchten aus der Wandecke des Atelierhauses auf beiden Wänden in entgegengesetzte Richtungen.
Wenn zu Beginn behauptet wurde, dass die Malerei erfreulicher Weise das Tönen der Farbkompositionen in eine paradoxe Dauer zu versetzen vermag, so muss diese Behauptung beim Anblick der Rauten, die sich zu einem Ensemble an der Wand vereinigt haben, weiter ausdifferenziert werden. Tatsächlich kommen die einzelnen Rauten im Zusammenspiel als Ensemble zu neuer und wechselhafter Klangwirkung. So vereinigt sich bei dem vierteiligen Ensemble Nummer 6 die blaue Grundfarbe der Dreieckshälften von drei Rauten zu einem unregelmäßigen Viereck, welches die Heiterkeit von Himmels- und Meerblau verströmt. Im gleichen Augenblick aber wird dies Elementare in eine Schwebe himmel- oder auch erdwärts versetzt, weil es Element einer Vogelgestalt zu sein scheint. Einer Vogelgestalt, in deren Gelbgefieder sich Blau und Schwarz und Weiß in immer neuen Formbildungen zu necken scheinen.
Schaut man sich nur lange genug in diese Figur Nummer 6 ein, dann sieht man, dass man diese vier Rauten auch ebenso zwingend ganz anders zusammen setzen könnte, wenn man nämlich die Blaudreiecke aus ihrem Verbund reißen und durch zwei Rautendrehungen und einen Rautenaustausch oben und unten an die Spitzenden der Figur setzen würde. Das Ensemble würde dann durch eine großflächige Gelbverdichtung und drei voneinander getrennte Blaudreiecke wirken, die in drei unterschiedliche Richtungen sich als Signaltöne vom Gelb ablösen würden. Bei genauerem Hinsehen merkt man, dass man es nicht einmal bei dieser Figur belassen müsste. Man könnte sogar eine neue Gesamtfiguration vornehmen und hätte eine andere Farbwirkung durch das neu geformte Ensemble. Dass man aus sechs 60°-Rauten einen Stern bilden kann, ist aus der Mathematik bekannt. Beim Ensemble Nummer 2 ist dies Gedankenspiel sehr vielversprechend und die Farbwirkung sogar noch aufregender, wenn man es bei fünf Sternelementen mit klaffender weißer Wandlücke belässt.
Wer sich nicht nur dem inneren Klang der Farben überlässt, sondern das Spiel in den Blick nimmt, welches durch die Schichtungen im Bild und die fragmentarischen Formen der Farbflächen entsteht, der wird an die Entdeckung der Romantik erinnert werden, dass auf dieser Erde alles nur Fragment sein kann, weil die Welt aus den Fugen ist und das Göttliche nur noch erahnt werden kann, vor allem, wenn das Kunstwerk den Rezipienten in das freie Spiel all seiner seelisch-sinnlichen Befähigungen freisetzt.

© Giovanni Tamanaco, 20. März 2017, nach Besichtigung der Ausstellung Raute an Raute, Malerei Anne Kolvenbach, im ATELIERHAUS, Neusser Hafenbecken 2.
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