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Gabriele Uerscheln
Katalogtext zur Ausstellung „Raute an Raute“ 2017
Atelierhaus Neuss, Hansaallee, Hafenbecken 2


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,mental maps'

Rautenformen: für Gemälde ungewöhnlich finden sie sich eher raumabhängig und nicht selten den Raumgegebenheiten formgebogen angepaßt in Zwickeln von sakraler oder prominenter Architektur. Untrennbar verschmolzen mit dem Wandgrund dienen sie als Teil einer geschlossenen Erzählung.

Unabhängig von derartigen Traditionen zeigte die Künstlerin Anne Kolvenbach 1992 in den Räumen des Kunstvereins Emmerich Arbeiten, die in ihren Rautenformen als Solisten auftraten, streng vertikal gerichtet, trotz alIer formalen und malerischen Verwandtschaft unabhängig voneinander, emanzipiert von äußeren Anforderungen der Räumlichkeiten.

Nun, im Jahr 2017, widmete sich Anne Kolvenbach emeut der Raute und erarbeitete darüber hinaus Möglichkeiten, wie die einzelnen Bilder als Gruppe zueinandergefügt miteinander kommunizieren können, ohne dabei ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Noch weiter thematisierte die Künstlerin Bezüge der entstandenen Rautengruppen zu den Eigenheiten des Ausstellungsraumes. Dabei galt es, neue Bestimmungen schaffen, ohne die vorhandenen Gegebenheiten zu verunklaren oder gar zu unterdrücken.

Charakteristisch fur Anne Kolvenbachs künstlerische Handschrift ist nicht zuletzt ihre Sorgfalt selbst im gestischen Farbauftrag der Untermalung. Die ,Nichtfarben' Schwarz bzw. Weiß dieser Untermalungen bilden den Grund für den dann erfolgenden Eintrag von Formen und Farben. Zunächst wird die Untermalung abgedeckt mit präzise geschnittenen Papierformen, die nach Übermalungen entfernt werden. Ein bewegtes Spiel von Formen und Farben entfaltet sich; die einzelnen Bildelemente erscheinen hier organisch, dort streng geometrisch, einmal eher malerisch, dann wieder linear. Farben kommunizieren hier in flirrendem, dort in pastosem Farbauftrag miteinander. Vereinzelt gekratzte Flächen geben den Blick frei auf die Untermalung in gestischem Duktus und kontrastieren mit dem, wie die Künstlerin es bezeichnet "Bestimmten". ,Mental maps' entstehen, Form- und Farblandschaften, die zum einen der persönlichen Ikonographie der Künstlerin verpflichtet, zum anderen in die Objektivität entlassen sind: Die Arbeiten sind so frei von dominierenden subjektiven Narrativen, daß jedem Betrachter die Möglichkeit offen ist, sein "Unbestimmtes" und sein "Bestimmtes" frei zu assoziieren. Leichtes und Schweres, Verharrendes und schnell Vorüberziehendes, Chiffren für Raum und Zeit sowie Farben in ihrer Symbolik für Facetten des Lebendigen offerieren die unendlichen Möglichkeiten von Welthabe.

Das freie ästhetische Spiel im Bildraum der einzelnen Tableaus findet seine Grenzen am strengen Umriß der Rauten. Im Atelierhaus hat Anne Kolvenbach die Arbeiten nicht als Solisten gezeigt, sondern sie in unterschiedlich großen Gruppierungen zueinandergefügt. Dabei wurde die strenge Vertikalitat der Rautenform zwar aufgehoben, aber nicht negiert. Souverän fügen sich die einzelnen Arbeiten zu einem lebendigen Ganzen zusammen, das durch den Raum zieht, dessen Dimensionen unterstreicht oder ihn neu bestimmt. Die Exaktheit der äußeren Rautengrenzen diszipliniert das lebendige Form- und Farbspiel in den einzelnen Bildräumen, ohne es zu unterdrücken. Was für eine Raute gilt: daß sie zwar einen Inkreis, aber keinen formumschließenden Außenkreis hat, gilt auch für die entstandenen Rautengruppen. Im Gegenteil fügen sich die Gruppen nicht zu festen geometrischen Formen wie etwa Quadraten zusammen, sondern zeichnen sich aus durch Versprünge und stufenbildende Auskragungen an ihren Außengrenzen. So verweisen sie auf Unabgeschlossenes, Fragmentarisches, was “in jenen Tagen" der fest geschlossenen Weltsichten, wie sie Wandmalereien beispielsweise in sakralen Innenräumen demonstrierten, nicht möglich gewesen wäre.

In den ,mental maps' der Künstlerin dagegen ist die einzelne Form nicht mehr strikt allein dem Ganzen verpflichtet, sondern auch sich selbst. Die Grenzen sind offen fur die Hinzufügung neuer Rauten. Mit ihren Rautengruppen hat die Künstlerin die zeitlosen Ideen von Freiheit und Begrenzung auf schöpferische Weise in den Fluß der Zeit entlassen.

© Gabriele Uerscheln
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